Schiur: Erste Stationen der ReformSeit einiger Zeit erschließt Susanne Michal Schwartze im Rahmen einer Schiur-Serie am Schabbat-Nachmittag wichtige Momente bei der Herausbildung des liberalen Judentums in Deutschland. Am 1. Dezembers stellte sie Auszüge aus der historischen Rede von Israel Jacobson zur feierlichen Eröffnung des Tempels in Seesen 1810 vor.
Die sich daran anschließende Diskussion im Egalitären Minjan unterstrich, dass bereits zu diesem frühen Zeitpunkt (1810!) alle entscheidenden Elemente des Reformjudentums benannt worden waren. Über das bereits Bekannte hinaus gab es jedoch Aspekte, die auch heute noch ein eingehenderes Verständnis verdienen.
So diskutierten die Anwesenden intensiv über die damals neu verwendete Bezeichnung „Tempel“ – gegenüber der „Synagoge“, dem „Bet haKnesset“ (Versammlungshaus) oder der „Schule“. Enthielt die Bezeichnung „Tempel“, indem sie auf den biblischen Tempel verwies, zugleich auch ein restauratives Element? (Nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 wurde als Zeichen der Trauer das Spielen von Musikinstrumenten im jüdischen Gottesdienst verboten.) Ist die Einführung der Orgel, um die das Reformjudentum im 19. Jahrhundert so sehr gestritten hatte, darum nicht nur als eine Angleichung an christliche Gottesdienste zu sehen, sondern auch als eine Wiederannährung an den einstigen Tempelkult? Bestand die Reform somit in einer paradoxen Bewegung, wonach sie einerseits auf den biblischen Tempel rekurrierte, diesen aber andererseits an die jüdischen Orte Deutschlands verlegte?
Kritisch diskutierten die Anwesenden über Irael Jakobsons Aufforderung, sich dem Christentum anzunähern. In diesem Zusammenhang nannte Susanne Michal Schwartze die Begriffe Mimikry und Hybridisierung aus der post-kolonialen Theorie. Allerdings wurde auch erwogen, ob Jacobsons nicht gescheute Nähe zum Christentum gerade als das Zeichen eines starken Selbstbewusstseins aus einem nunmehr modernisierten Judentum heraus zu sehen sei.
Es folgen die Auszüge aus Israel Jacobsons Rede zur feierlichen Eröffnung des Tempels in Seesen 1810
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Ob sich aber diese Grundsätze der Annäherung verschiedener Glaubensgenossen auch auf den heiligen Sitz unserer Gottesverehrung, auf die wirkliche Übung der Religion anwenden lassen? Eine mißliche Aufgabe! in welcher nicht allein die Dornen der bedenklichsten Schwierigkeit, sondern sogar die abschreckenden Warnungszeichen einer anscheinenden Unmöglichkeit liegen. Jene Vereinigung, an welcher meine Erziehungsanstalt arbeitet, erstreckt sich mehr auf die Gemeinschaft des Umgangs, auf die Ineinandeschmelzung der Sitten, auf die Gleichheit der Menschenpflichten, auf die gemeinsame Bildung des künftigen Bürgers. Aber eine gemeinschaftliche Gottesverehrung von zwei Partheien, deren Grundsätze nicht allein in einigen unwesentlichen Nebenpunkten, sondern sogar in wichtigen Hauptsachen weit aus einander liegen, scheint nur das Hirngespinst eines lustigen Schwärmergeistes zu seyn. Meine vorzüglichste Absicht bei diesem Baue konnte daher keineswegs auf eine volle religiöse Gemeinschaft jener Partheien hinstreben. Man erreicht – gar nichts, wen man alles oder nur auf einmal zu vieles bezweckt, und legt schon den Grund zur Zerstörung eines Unternehmens, wenn man dem Verfahren der Treibhäuser nachahmt. Nur allmählige und langsame Entwicklung ist die Ordnung, in welcher uns die Natur ihre größeren Geburten in der Geister- wie in der Körperwelt aufführt; jede Ablenkung von diesem weisen Gange unserer gemeinsamen Mutter, rächt sich an dem Eigen- oder Leichtsinne des Menschen durch Fehlschläge oder gar durch umgekehrte Erfolge. Es ist daher vorzüglich Eure religiöse Bildung, meine israelitischen Brüder, es ist die Ausübung Eurer Gebräuche, Eure Andacht, u.s.w. welche mir zunächst bei dem Entwurfe dieses Tempelbau’s vorschwebten. Fern sey es, daß ich mich nur im Geringsten zu der geheimen Absicht hinneigen sollte, die Grundstützen Eures Glaubens wankend, unsere alten ehrwürdigen Grundsätze durch den Glanz neuer Meinungen unscheinbar und mich selbst vielleicht nach den Eingebungen einer geheimen Eitelkeit an der Religion wie an Euch zum Verräther zu machen. Ihr kennt meine treue Anhänglichkeit an den Glauben meiner Väter: es bedarf darüber keiner Betheuerungen; meine Handlungen mögen mehr dafür zeugen, als meine Worte. Aber wenn ich hier zu einer Annäherung zwischen Euch und unsern christlichen Glaubens-Nachbaren die ersten Vorbereitungen versuche: so möchte ich mehr auf Euren Dank und Eure redlichste Mitwirkung, als auf Euren Tadel oder gar auf Eure Widersetzlichkeit rechnen; denn nur von dieser Annäherung hängt Eure wahre und fortschreitende Aufklärung, hängt die Bildung Eures Geistes zur ächten Religiosität, und zugleich Euer künftiges größeres politisches Wohl ab. Daß unser Gottesdienst bisher an vielen Zwecklosigkeiten kränkelte, daß er zum Theil, in ein geistloses Hersagen von Gebeten und Formeln ausgeartet, daß er mehr dazu gemacht war, die Andacht zu tödten als zu erheben, und unsere religiösen Grundsätze auf jenen Vorrath von Kenntnissen zu beschränken, welcher seit Jahrtausenden unvermehrt und unveredelt in unsern einheimischen Speichern da lag – wer wird es wagen, dieses zu läugnen? Von allen Seiten öffnet sich die Aufklärung um uns her einen größeren Spielraum u. s. w. und wie allein sollten zurück bleiben?
[…]
Aber laßt uns aufrichtig seyn, meine Brüder. Noch lasten auf unserem Kultus einige religiöse Gebräuche, welche der Vernunft, und unsern christlichen Freunden mit Recht anstößig seyn müssen. Auf solche Gewohnheiten einen zu großen Werth zu setzen, entweihet die Heiligkeit unserer Religion, und entehrt den vernünftigen Menschen, so wie es ihn vorzüglich ehrt, sich selbst und seine Mitgenossen immer kräftiger zu dem Gefühle ihrer Entbehrlichkeit zu ermuntern. Unserer geistliche Behörde, das israelitische Konsistorium, bietet uns dazu willig die Hände, macht die Verbesserung unserer Synagogen und Schulen zum Gegenstande seiner eifrigsten Sorgfalt, verbreitet richtigere Grundsätze, und wird unser Bestes auch dann unpartheiisch besorgen, wenn wir nicht augenblicklich die Blüthen oder Früchte desselben wahrnehmen.
[…]
Und du, o Gott, dessen mächtige Hand unser Volk nacheiner langen Entwürdigung, wie einst nach einer langen Gefangenschaft, wieder erhob en, dessen Güte die Arbeit mehrerer Jahre endlich zu einem glücklichen Ende geführt hat; möchtest du uns auch ferner vergönnen, die herrlichen Spuren deiner Liebe, deines Wohlwollens, deines Schutzes in den Schicksalen unserer Genossen wie in den Folgen dieses Tempelbaues zu schauen! Aber möchten wir bei diesem Vertrauen nie mit der Trägheit des Langsamen, mit der Verlegenheit des Unentschlossenen, mit den Schwärmerhoffnungen des Wundergläubigen auf deine große Mitwirkung hoffen; möchten wir, eingedenk unserer Würde, nie den Menschen, die hohe Bestimmung eines Wesens in uns vergessen, das du mit Vernunft und Freiheit begabtest, um es selbst denken, selbst handeln zu lassen, und das du nicht zu einer seelenlosen Maschine in dem Plane deiner Schöpfung bestimmtest. Nie laß uns verzweifeln an der guten Sache der Religion und der Menschheit, noch verzagen, wenn neue Hindernisse sich uns in den Weg werfen, wenn ein Beginnen, wie die Erhebung und Aufklärung einer zerstreuten Genossenschaft ist, nur langsam, nur unter manchen Schwierigkeiten, nur nach Jahrhunderten zur Reife gedeihet. Vor allem aber laß uns lebhaft erkennen, daß wir mit allen Bekennern anderer Gotteslehren Brüder sind, Abkömmlinge Eines Geschlechts, welches dich als seinen allgemeinen Vater verehrt, Brüder, die sich zur Liebe und sanften Duldung anleiten müssen, Brüder endlich, welche unter deiner Führung einem gemeinschaftlichen Ziele entgegenwandeln, und zuletzt, wenn alle Nebel von unsern Augen verschwunden, alle Irrthümer von unserm Geite gewichen, alle Zweifel von unserm Verstande gelöst sind, sich auf demselben Pfade begegnen werden. – Amen.
Quelle: Sulamith 1810, S. 307-309, 314-315, 316-317.
BerichtDemo gegen Justizreform in IsraelRede von Rabbinerin Elisa Klapheck
Liebe Freundinnen und Freunde,
Schalom chawerim – schalom chawerot!
Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Demo,
ob Juden und Jüdinnen,
ob aus Israel
oder ob einfach nur solidarisch mit Israel
und seiner Demokratie,
Das ist die erste Rede auf einer Demonstration, die ich halte.
Ich hätte nie gedacht, dass es soweit mit mir kommt, dass ich auf einer Demo spreche.
Rabbiner sollten sich eigentlich aus der Alltagspolitik heraushalten.
Aber hier geht es nicht um Alltagspolitik – hier geht es um Grundsätzliches!
In der Tora steht ganz eindeutig, dass die Regierung unter dem Gesetz steht –
Unter dem Gesetz und nicht über dem Gesetz
Wenn Du Dir einen König gibst, - sagt die Tora - „soll er sich diese Tora zweimal abschreiben – und sie soll bei ihm sein, dass er darin lese alle Tage seines Lebens, auf dass er lerne den Ewigen seinen Gott zu fürchten, zu beobachten alle Worte der Tora und dieser Rechtssatzungen, um sie auszuüben – dass sich nicht erhebe sein Herz über seine Brüder und dass er nicht weiche von dem Gebote rechts noch links.“ (Deut. 17, 18-20)
In der antiken Welt war das ein Novum – ein König, der sich an die Tora zu halten hat. Der unter ihr steht und aus ihr lernen soll.
Das war ein... Lesen Sie mehr >>