Begeistert! Im Egalitären Minjan können viele Mitglieder die Tora-Lesung selbständig vortragen, beziehungsweise "lejnen". Die Rabbinerin und der Kantor bieten hierfür Unterricht an. Daniel Krasa erzählt, wie er als 40-jähriger das Lejnen lernte und unlängst seine erste Alija hatte, bei der er selbst den Text vortrug.
Lejnen gegen die Midlife-Crisis
Mein holpriger Weg in die Tiefen der Tora-Rezitation
„Wie die Zeit vergeht“ dachte ich bei mir, als ich mich im August 2016 zu meinem 40. Geburtstag im Spiegel sah! „Wie die Zeit vergeht“, diese berühmte, halb philosophisch, halb resignierend gemeinte Feststellung, die uns allen im Laufe unseres Lebens so häufig über die Lippen geht, bedeutet eigentlich „es muss etwas geschehen“, etwas Neues, etwas das mich wieder jünger fühlen lässt!
Altersgenossen von mir kaufen sich in diesem Moment einen Sportwagen, fangen mit dem Hochgebirgsklettern an oder vergewissern sich, ob ihnen die exzessive Nightlife-Szene mitsamt der dazugehörigen Fangemeinde noch Asyl gewährt. Ich hingegen entschloss mich für etwas weniger Profanes, dafür – wie sich später herausstellen sollte – durchaus ebenso Adrenalinhaltiges: das Lejnen! Wer hin und wieder oder gar regelmäßig den Schacharit-Gottesdienst besucht, dem mag das Zuhören der Rezitation aus der Tora durchaus vertraut sein und vielleicht erinnert sich der ein oder andere auch noch an das einschlägige Erlebnis, der ersten – und meistens auch einzigen – Lesung zur Bar bzw. Bat Mitzwa. Doch selber lejnen ist für die allermeisten mit der eintretenden Pubertät in sichere Vergessenheit geraten. Umso erstaunter war ich zu erfahren, dass sowohl die Rabbinerin – Prof. Elisa Klapheck – als auch der Chasan – Daniel Kempin – des Egalitären Minjan Unterricht im Lejnen auch für Erwachsene anbieten. Das war es was ich wollte! Welch bessere Möglichkeit gäbe es, der Essenz der Tora auf den Grund zu gehen, als selbst aus ihr bei einem Gottesdienst vor der Gemeinde zu lesen? „Nichts leichter als das“ dachte ich und entschied mich, bei Chasan Daniel Kempin zehn Doppelstunden zu buchen! „Bewaffnet“ mit Block und Stift, guter Laune, auf Hochglanz polierten Stimmbändern und inspiriert von Kurzbeiträgen auf Youtube mit so verheißungsvollen Namen wie „Learn how to chant the Torah in five minutes“, machte ich mich voller Elan auf zu meinem ersten Unterricht.
Die Realität holte mich schnell ein… Interessanterweise bewegen wir uns im Erwachsenenalter häufig in einer Art Komfortzone. Wir machen tagtäglich den Job, den wir halbwegs können, beschäftigen uns mit dem, was uns Freude macht oder zumindest, was uns die Gesellschaft auferlegt und gehen behutsam all dem aus dem Weg, wozu wir keinen Zugang haben oder glauben, nicht talentiert zu sein. Und genau in diesem Schlamassel befand ich mich auf einmal. Mit dem Lejnen begab ich mich, zum ersten Mal seit geraumer Zeit auf ein vollkommen fremdes Terrain. Natürlich wusste ich, dass es sich nicht alleine darum handelt, den unvokalisierten hebräischen Text richtig zu lesen, sondern mir war zumindest theoretisch klar, dass ich mich in die einzelnen Tontrauben – die sogenannten Ta'amim – einarbeiten musste, sprich ich musste lernen, zu singen! Welch großer Schritt für jemanden, der nicht zuletzt durch diverse Traumata aus dem Musikunterricht seit spätestens der 4. Klasse der ungebrochen festen Überzeugung war, nicht musikalisch zu sein! „Auf was habe ich mich da eingelassen“, dachte ich, als ich die ersten Ta'amim trällerte. Merchah, Tip'chah, Munach, Etnachta und wie sie alle heißen, regnete es auf mich herab. Ein zuerst nicht zu durchdringendes Schilfmeer aus Tonleitern, Melodien und Stimmabsätzen tat sich vor mir auf.
Das Chaos in meinem Kopf war gewaltig. Wo im Hintergrund meiner alltäglichen Gedanken häufig ein Mischmasch aus Liedern wie dem Adon Olam, Yesterday von den Beatles oder Vivaldis Vier Jahreszeiten erklungen waren, hämmerte es auf einmal nur noch Tewir, Mapach, Katon, Segol usw. Ich versuchte mich zu erinnern, wie das damals in der Schule und beim Studium war. Auswendig lernen? Keine gute Idee! Spickzettel? Unmöglich! Wiederholen, wiederholen, wiederholen – genau das war’s! Ich übte was das Zeug hält, beim Duschen, Autofahren, Einschlafen und selbst im Traum – so schien es mir zumindest manchmal. Und tatsächlich, am Ende des Tunnels wurde es hell! Je mehr ich lernte, desto mehr machte alles Sinn. Auf einmal begann ich den Zusammenhang von Wörtern und deren zugehörige Melodie zu verstehen. Ich fing an, Parallelen zu sehen und Abfolgen von Ta’amim zu erkennen und nachzuvollziehen. Ich bemerkte, dass neben dem sowieso schon so reichen Text jeder Parascha noch eine weitere Schicht über den Worten lag, eine Intonation, die der Aussage des Textes diese ungeahnt kraftvolle Aura verleiht.
Spätestens mit der fünften Unterrichtseinheit war ich im positiven Sinne gefangen von dieser wahrhaftig tiefgründigen neuen Aufgabe. Ich lernte etwas, vor dem ich mich so viele Jahre hindurch erfolgreich drückte – nämlich mit meiner Stimme zu arbeiten. Dabei fing ich außerdem ganz automatisch an, ganz tief in den Originaltext der Tora einzutauchen und über den vordergründigen Sinn der Textpassage hinaus, zumindest zu erahnen, wie viel hierzu noch zu erwissen ist. Das Üben gab mir Kraft und war eine Art Meditation, bei der ich die wirren Gedanken des Alltags zur Seite legen konnte. Doch je mehr ich mich für das Lejnen begeisterte, desto näher rückte der Termin, an dem ich mein neu erlerntes Wissen zum Besten geben sollte. Im vertrauten Umfeld vor meinem Lehrer zu singen ist eine Sache, aber in der Synagoge? Werden meine Nerven mitspielen? Kann ich Präsenz zeigen, ohne dabei aufdringlich zu wirken? Wie wird man meine Stimme wahrnehmen? Wird es Eier und Tomaten regnen? Fragen über Fragen. Doch jedes Warten hat irgendwann ein Ende und auf einmal war es soweit! Am 30. Siwan 5777 (dem 24. Juni 2017) wurde ich nach Monaten der Vorbereitung zu meiner ersten Alija als Lejner zur Parascha Korach aufgerufen!
Eine ordentliche Menge „Rescue-Tropfen“ hatten mich vor der anfänglichen Nervosität gerettet und da stand ich nun auf der Bima, mit dem Jad in der Hand, während Dutzende Augenpaare erwartungsvoll in meine Richtung schauten, um die Worte Gottes aus meinem Mund zu hören. „Die Stimmbänder gezückt und durch“ sagte ich mir und das Lejner-Schicksal nahm seinen Lauf. Ameeeeen! Kol Terumot HaKadaschim… Wie so oft in solchen Momenten schaltete mein Verstand weitestgehend ab und ich rezitierte fast automatisch den Text, so wie ich ihn in den Wochen zuvor gelernt hatte. Hier ein Holperer und da ein kleiner Versprecher, doch darauf kam es nicht an. Im Nu waren die Verse rezitiert, ich hatte das Sof Alija erreicht und meine Stimme hallte noch nach. Ich hatte es geschafft und das nicht nur als aktiver Teil des traditionellen Gottesdienstes, sondern eben auch für mich, als Überwindung auf dem Weg zu etwas Unbekanntem, das überraschend schnell zu einem Teil von mir geworden war. Die Mission, das Spirituelle mit dem Lernen zu verbinden hatte Früchte getragen. Und dabei war dieser „Auftritt“ in keiner Weise unangenehm. Im Gegenteil, ich habe mich gleich im Nachhinein schon für den nächsten Termin angemeldet, denn solange ich noch in diesem „Rausch“ bin, sollte ich auch weitermachen, denn wer weiß, vielleicht wird es beim nächsten Mal noch aufschlussreicher. Ob ich mich jetzt jünger fühle? Nicht wirklich, aber innerlich reicher auf jeden Fall. Und mal ganz ehrlich, den Sportwagen kann ich mir ja irgendwann immer noch kaufen.
BerichtDemo gegen Justizreform in IsraelRede von Rabbinerin Elisa Klapheck
Liebe Freundinnen und Freunde,
Schalom chawerim – schalom chawerot!
Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Demo,
ob Juden und Jüdinnen,
ob aus Israel
oder ob einfach nur solidarisch mit Israel
und seiner Demokratie,
Das ist die erste Rede auf einer Demonstration, die ich halte.
Ich hätte nie gedacht, dass es soweit mit mir kommt, dass ich auf einer Demo spreche.
Rabbiner sollten sich eigentlich aus der Alltagspolitik heraushalten.
Aber hier geht es nicht um Alltagspolitik – hier geht es um Grundsätzliches!
In der Tora steht ganz eindeutig, dass die Regierung unter dem Gesetz steht –
Unter dem Gesetz und nicht über dem Gesetz
Wenn Du Dir einen König gibst, - sagt die Tora - „soll er sich diese Tora zweimal abschreiben – und sie soll bei ihm sein, dass er darin lese alle Tage seines Lebens, auf dass er lerne den Ewigen seinen Gott zu fürchten, zu beobachten alle Worte der Tora und dieser Rechtssatzungen, um sie auszuüben – dass sich nicht erhebe sein Herz über seine Brüder und dass er nicht weiche von dem Gebote rechts noch links.“ (Deut. 17, 18-20)
In der antiken Welt war das ein Novum – ein König, der sich an die Tora zu halten hat. Der unter ihr steht und aus ihr lernen soll.
Das war ein... Lesen Sie mehr >>